Dr. Gerhard Roge
Ex und hopp -
Glasgefäße der neueren Zeit aus Dortmunder
Ausgrabungen
Gebrauchsgegenstände des 19. und 20.
Jahrhunderts finden bei archäologischen
Ausgrabungen nur selten Beachtung. Zu bekannt
erscheint oft diese Zeit, zu gut erforscht ihre
Hintergründe. Doch immer seltener gelingt es auf
Anhieb, das bei den Ausgrabungen zutage kommende
- junge - Fundgut zu benennen. Vielfach ist
inzwischen intensive Recherche in Heimat-,
Firmen- und Industriemuseen erforderlich, um
Alltagsgegenstände dieser Zeitstellung
identifizieren zu können. Aus diesem Grund
startete in der Stadtarchäologie Dortmund ein
Projekt, die Objekte der häufigsten Fundgattung
des 19. und 20. Jahrhunderts, nämlich halb- und
vollmechanisch hergestellte Glasflaschen, zu
erfassen, zeitlich zu differenzieren und die
Produktionsmerkmale zu beschreiben.
Das Fundgut von archäologischen Ausgrabungen ist
naturbedingt heterogen. Produktserien oder
Produktübersichten für bestimmte Zeitspannen
können aus den für diese Fragestellung jeweils
nur zufälligen Grabungsausschnitten nicht
erwartet werden. Und so fehlen bislang für das
industriell gefertigte archäologische Fundgut
anwendbare Typenkataloge in Bild und Schrift
sowie Herstellerverzeichnisse.
Die Dortmunder Funde stammen aus verfüllten
Kellern und Brunnen, oft aber auch aus
Auffüllschichten. Bei letzteren gilt zu
beachten, dass sie nicht aus der direkten
Umgebung der Fundstelle stammen müssen. Um
Hohlräume zu verfüllen, transportierte man im
Ruhrgebiet nach Ende des Zweiten Weltkriegs
Materialien über weite Strecken. Um trotz derart
eingeschränkter Möglichkeiten
sozialgeschichtliche Aussagen ableiten zu
können, ist die exakte Bestimmung der
aufgefundenen Objekte besonders wichtig.
Handwerk und Mechanik - Technische Entwicklung
Glasflaschen wurden bis Anfang des 19. Jahrhunderts in
reiner Handarbeit hergestellt und weisen zahlreiche
Unregelmäßigkeiten auf. Keine Flasche gleicht der
anderen. Der Glasbläser entnahm mit der Glasmacherpfeife
ein Stück glühender, teigiger Glasmasse (den so
genannten Glasposten). Durch Einblasen von Luft nahm der
Glasposten bei ca. 1000°C Arbeitstemperatur die Form
einer hohlen Glaskugel an, die man als „Külbel“
bezeichnet. Hieraus formte der Glasbläser entweder in
freier Drehung oder durch Blasen in eine Hohlform
(Model) den Flaschenkörper aus. Die Drehung ist oftmals
in der Struktur des Glases deutlich sichtbar.
Die einfachen Modeln bestanden zunächst aus Holz, später
aus Metall, sie reichten etwa bis zur Schulterpartie der
fertigen Flasche. Der Mündungsteil (oberer Teil des
Flaschenhalses) musste separat gefertigt werden. Hierzu
war es notwendig, den Flaschenkörper am Boden mit einem
Haltewerkzeug, meistens einer zweiten Glasmacherpfeife
oder einem Hefteisen, festzuhalten. Erst nach dieser
Fixierung konnte die Mündungspartie der Flasche
bearbeitet werden. Nach Fertigstellung der Flasche
musste das Halteinstrument gelöst werden, was den so
genannten Abriss, eine raue Stelle am Flaschenboden,
hervorrief.
Der Abriss ist das verlässlichste Indiz für die
vorindustrielle Flaschenfertigung. Er befindet sich in
dem unterschiedlich stark ausgeprägten Einstich. Als
Einstich bezeichnet man den eingewölbten Flaschenboden.
Er schaffte den Raum für den Glasrückstand (Abriss), den
das Halteinstrument nach der Entfernung hinterließ, ohne
die Standfestigkeit zu beeinträchtigen.
Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts waren spezielle,
am Flaschenhals anzusetzende Halte- oder
Klammerwerkzeuge in Gebrauch, die den Einsatz einer
zweiten Glasmacherpfeife überflüssig machten, damit
verschwand der Abriss.
Zu Beginn des Industriezeitalters befanden sich die
meisten Glashütten noch in waldreichen Gebieten
außerhalb des heutigen Ruhrgebiets, z.B. im
Weserbergland, im Bayerischen Wald oder in Böhmen. Mit
der Industrialisierung und dem zunehmenden Ersatz von
Holzkohle durch Steinkohle als Brennstoff wurden auch im
rheinisch-westfälischen Industriegebiet Glashütten
gegründet, die näher an den Absatzmärkten lagen. In
Dortmund selbst gab es zwar keine Glasproduktion, aber
allein im Nachbarort Witten entstanden im 19.
Jahrhundert fünf Glashütten. Die in Dortmund gefundenen
Glasgefäße stammten aus verschiedenen meist deutschen
Glashütten, überwiegend aus (Düsseldorf-) Gerresheim.
Die steigende Nachfrage nach Glasartikeln führte ab dem
Beginn des 19. Jahrhunderts zur Einführung neuer
Verfahren für die Produktionssteigerung und
Rationalisierung des Herstellungsprozesses. Dazu gehörte
insbesondere der Einsatz von mechanisch unterstützten
zwei- und dreiteiligen, aufklappbaren Metallhohlformen.
Hiermit konnten standardisierte Flaschen von gleichem
Volumen hergestellt werden. Zusätzlich legte man in die Metallformen
auswechselbare Schriftschablonen ein, so dass die
Flaschen Reliefinschriften an den Seiten erhielten.
Abb. 1: Mineralwasserkrug der Roisdorfer Mineralquelle
(um 1895) aus Dortmund-Aplerbeck (Foto: Denkmalbehörde
Stadt Dortmund, Stefanie Kleemann).
Die in den dreiteiligen Metallhohlformen ohne Drehung
der Glasmacherpfeife geblasenen Flaschen, sogenannte
stillgeblasene Flaschen, weisen drei Formnähte auf. Eine
läuft waagerecht unterhalb der Schulter um den
Flaschenkörper. Die beiden anderen verlaufen senkrecht,
liegen sich genau gegenüber, sitzen der Schulternaht auf
und enden unterhalb der Mündung. Erst durch die
Verwendung einer speziellen Formenschmiere, die vor dem Blasen gleichmäßig auf die Innnenwandung
der Form aufgetragen wurde, war es seit 1879 möglich,
auch in mehrteiligen Metallhohlformen nahtfreie
Zylinderflaschen zu blasen. Bei diesen halbautomatisch
hergestellten Flaschen musste lediglich der
Mündungsbereich manuell nachbearbeitet werden. Außerdem
konnten nun auch die Flaschenböden durch Einlegen einer
sich mitdrehenden Metallscheibe mit Reliefinschriften
versehen werden. Etwa ab 1860 war das „Stillblasen“ in
mehrteiligen Modeln generell üblich.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts kamen vollautomatische
Flaschenblasmaschinen zum Einsatz. Wegen der hohen
Investitionskosten setzten sie sich in Europa erst in
den 1920iger Jahren durch. Vollautomatisch hergestellte
Flaschen sind an zwei sich exakt gegenüberliegenden,
sehr dünnen Formnähten zu identifizieren, die vertikal
auf der gesamten Wandung verlaufen und sich bis in die
Mündungspartie fortsetzen.
Material und Funktion - Mineralwasser als Heilmittel
Handgefertigte Mineralwasserkrüge aus grauem Steinzeug
mit dem Brunnenstempel des Quellortes Selters, dem sog.
Kurtrierer Kreuz, datieren in das 18. Jahrhundert. Die
Zeitstellung ist mit dem Ende der Zugehörigkeit zum
Erzbistum Trier (Kurtrier) 1802 gegeben. Sie wurden im
19. Jahrhundert durch braune Steinzeugkrüge abgelöst,
die man seit 1879 industriell im Stranggussverfahren
herstellen konnte. Auch dafür liegen zahlreiche
Fundbelege vor, z. B. industriell gefertigte Krüge des
Roisdorfer Mineralbrunnens aus der Zeit um 1895. (Abb.
1)
Erst nach 1900 ersetzten industriell hergestellte
Glasflaschen für Mineralwasser die Steinzeugkrüge.
Der Wechsel des Werkstoffs und der Übergang von
handwerklicher zu (halb-)industrieller Fertigung läßt
sich gut bei den in Dortmund gefundenen
Mineralwassergefäßen veranschaulichen. Zunächst erfolgte
bei gleichem Material ein Übergang von der manuellen zur
(halb-)industriellen Herstellung. Dies ermöglichte eine
Produktion in höheren Stückzahlen bei gleichmäßig guter
Qualität. Dann wurde wegen der weiter steigenden
Nachfrage, der größer werdenden Transportentfernungen
und zur Gewichtsersparnis der schwerere Werkstoff
(Steinzeug) durch einen leichteren (Glas) ersetzt. Diese
Entwicklung hält bis in die heutige Zeit an, da
Glasflaschen durch leichtere Kunststoffflaschen ersetzt
werden. Die genannten Entwicklungsschritte liefen teils
nacheinander, teils auch parallel ab.
Doch auch schon zu Zeiten der Steinzeugkrüge füllten
einige Mineralbrunnen in Glasflaschen ab. Hierzu gehörte
die Bitterquelle Hunyadi Janos in der Nähe von
Budapest. Das an Natrium- und Magnesiumsulfaten (Bittersalzen)
reiche Bitterwasser war zu jener Zeit ein beliebtes
Abführmittel. Das Wasser dieser Quelle wurde zumeist in
dunkelgrünen 0,72-Liter-Flaschen mit Zinnverschluss in
alle Welt exportiert. Die frühen, in Dortmund gefundenen
Flaschen waren unter Drehung in eine einfache
Metallhohlform geblasen worden, später wurden sie auch
maschinell hergestellt.
Mineralwasser galt als Heilmittel. Es war entsprechend
teuer und wurde in Apotheken verkauft. So war
beispielsweise ein wesentlicher Teil des Umsatzes der
Dortmunder Adler-Apotheke in der Innenstadt im
ausgehenden 19. Jahrhundert auf die dortige
Mineralwasserniederlage zurückzuführen.
Logistik und Werbung – Der Zweck heiligt die Mittel
Durch die Industrialisierung erfolgte ab Mitte des 19.
Jahrhunderts eine starke Zuwanderung von Arbeitskräften
in das Ruhrgebiet. Dies führte zu einer hohen Nachfrage
nach Gebrauchsgütern und Nahrungsmitteln, unter anderem
auch nach Bier. So entstanden im gesamten Ruhrgebiet,
insbesondere aber in Dortmund viele Brauereien. Sie
versahen seit ca. 1880 die Bierflaschen mit ihrem Namen,
die Flaschen blieben als Pfandflaschen ihr Eigentum.
Flaschen und Kästen wurden in Flaschenaustauschstellen
gesammelt, sortiert und sortenrein wieder an die
Brauereien zurückgebracht. Von 1907 bis in die Zeit des
Zweiten Weltkriegs hinein existierte in Dortmund eine
Flaschenaustauschstelle, über die die Eigentumsflaschen
der jeweiligen Brauerei ausgewechselt wurden. Im Verlauf
der Kriegsjahre musste die Austauschstelle ihre Arbeit
allerdings einstellen, da die Flaschen ohne Rücksicht
auf Eigentumsvermerke Verwendung fanden.
Bei den in Dortmund gefundenen Bierflaschen lässt sich
diese Änderung beim Sammeln und Austauschen der
Pfandflaschen belegen. Wohl wegen kriegsbedingter
Transportprobleme wurde eine 1941 für die Brauerei
Robert Leicht in Vaihingen (seit 1942 ein Stadtteil von
Stuttgart) hergestellte grüne Bügelflasche mit einem
Porzellankopf der Dortmunder Kronen-Brauerei versehen
und in den Verkehr gebracht.
Abb. 2: Vorratsgefäße für Tinte aus der Ausgrabung
Silberstraße, Dortmund-Innenstadt (Foto: Denkmalbehörde
Stadt Dortmund, Stefanie Kleemann).
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts traten neben den
klassischen Flaschenformen zusehends auch solche auf,
die mit ihrem signifikanten, werbewirksamen
Erscheinungsbild für ihren Inhalt warben. Pharmazeutika,
Arzneien, Gewürze und Soßen wurden in Flaschen
unterschiedlicher Form und Farbe abgefüllt, dies diente
einerseits zur - bei Arzneien oft lebenswichtigen -
Unterscheidung des Inhaltes, andererseits als äußerst
einprägsame Werbung. Bekanntes Beispiel sind die
kleinen, vierkantigen Gefäße, die „Tintenfässer“ (Abb.
2), als kennzeichnend für den Inhalt Tinte
oder die Fläschchen der Würzsoße der Firma Maggi, die das Synonym für den Inhalt geworden sind.
Flaschen, die insbesondere Werbezwecken dienen sollten,
wurden ab etwa 1860 in zunehmendem Maße in zweiteiligen
Modeln geblasen. Um möglichst große Flächenanteile für
Beschriftung und Produktwerbung auf den eckigen
Glaskörpern zu erhalten, gestaltete man die Model so,
dass die Formnähte an sich diagonal gegenüberliegenden
Ecken lagen. Dieses Prinzip wurde beibehalten, um ab
1880 dem immer beliebteren Etikett Platz zu geben.
Abb. 3: Knickerflaschen von zwei Dortmunder Fundstellen
(Foto: Denkmalbehörde Stadt Dortmund, Stefanie
Kleemann).
Besonders groß ist die Vielfalt auch bei den gefundenen
Glasflaschenverschlüssen, auch sie dienten u. a. als
Werbeträger. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es
Schraubverschlüsse mit Innengewinde sowie seit 1875
Bügelverschlüsse. An Mineralwasserflaschen fanden sie bis Ende der
1960er Jahre Verwendung, bis sie von der bis heute
benutzten „Perlenflasche“, der 0,7
Liter-Mineralbrunnen-Standardflasche, mit
Schraubverschluss abgelöst wurden. Eine Besonderheit
waren die vom Engländer Hiram Codd 1872 zum Patent
angemeldeten „Knickerflaschen“ (Abb. 3), die bis ca.
1930, regional auch noch bis in die 1950er Jahre, in
Gebrauch waren.
Abb. 4: Apothekenflasche (Abgabegefäß) der
Löwen-Apotheke in Dortmund-Innenstadt. „Die Inschrift
lautet: SCHÜRHOFFSCHE / LÖWEN-APOTHEKE / E. SCHRAMM /
DORTMUND“(Foto: Denkmalbehörde Stadt Dortmund, Stefanie
Kleemann).
Zu den häufigsten Glasfunden in Dortmund zählen die
Abgabengefäße der Dortmunder Apotheken (Adler-, Löwen-,
Schwanen-Apotheke, Abb. 4). Anhand der Aufprägungen, die
in der Regel den Namen der Apotheke und ihres Inhabers
trugen, können sie in den Zeitraum 1890-1900 datiert
werden.
Ein Beleg für die damalige Internationalisierung des
Handels ist eine ovale Medikamentenflasche aus
Liverpool. Sie trägt neben der Aufprägung des Herstellers bzw.
Händlers zwei unterschiedliche Strichskalen, d.h. sie
wurde in England für den internationalen Markt
hergestellt.
Der internationale Handel machte schon Ende des 19.
Jahrhunderts eine überall wiedererkennbare Firmenwerbung
immer wichtiger. Ein heute recht unscheinbar aussehendes
Glasgefäß weist eine um den Flaschenhals verlaufende
Aufprägung „SYNDETIKON“ auf. Hierbei handelt es sich um ein Behältnis für den
flüssigen Leim Syndetikon (Abb. 5).
Abb. 5: Flasche des Allesklebers „SYNDETIKON“ von einer
Fundstelle aus Dortmund-Innenstadt (Foto: Denkmalbehörde
Stadt Dortmund, Stefanie Kleemann).
Die Flasche besaß ursprünglich ein Papieretikett.
Versehen mit dem Slogan „…klebt, leimt, kittet alles“,
besonders aber mit Motiven im Jugendstil, die vom
Künstler F. Schultz-Wettel gestaltet wurden, warb die Firma um 1900 sehr erfolgreich um ihr
Produkt.
Am Ende des 19. Jahrhunderts und noch bis in die
1960/70er Jahre war Glas das Verpackungsmaterial der
Wahl. Viele Artikel, die heute in Kunststoff- oder
Leichtmetallbehältern verpackt werden, kamen damals in
Glasgefäßen in den Handel. Als Beispiel kann ein
Glasgefäß mit der seitlichen Aufprägung „C.F. HEYDE
BERLIN“
und der im Gefäß gefundene Pinselrest dienen. Das Gefäß
hatte offensichtlich Lack oder Lackfarbe enthalten.
Fazit
Die Industrieregion Ruhrgebiet ist ein Ergebnis der
technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Der
Begriff ist ein Symbol geworden für Fördertürme,
Hochöfen und Werkssiedlungen. Das archäologische Fundgut
dieser Zeit bildet dagegen den Prozess der
Industrialisierung im Alltagsleben der Bevölkerung ab.
Am Beispiel archäologischer Glasflaschenfunde versucht
die Dortmunder Stadtarchäologie, Einblicke in die
„Privatsphäre“ einzelner Haushalte zu gewinnen. Ein
mühsamer, aber lohnenswerter Versuch frei nach dem
Motto: „Cäsar schlug die Gallier - hatte er nicht
wenigstens einen Koch bei sich?“